Futurismus
"Der Futurismus (ital. futuro = Zukunft) entwickelt sich in Italien um 1910 als Avantgardebewegung, die mit allem Vorhergehenden brechen will. Futuristische Künstler agieren gegen Akademien, setzen Museen mit Friedhöfen gleich und werben stattdessen für eine Ästhetik körperauflösender Dynamik. Dementsprechend setzen sich Futurismus wie Kubismus mit der Form und ihrer Zerlegung auseinander. Die futuristische Formauflösung arbeitet dabei aber nicht nur mit der rein kubistischen Zersplitterung der Figurationen; vielmehr sollen wie bei einer "Chronofotografie"- dem mehrfach belichteten Foto- aufeinander folgende Bewegungsabläufe in dem Bild visualisiert werden.
Der Faktor Zeit erhält somit eine wichtige Bedeutung für die Kunst des Futurismus. Die in den Bildern gezeigte Simultaneität dynamischer Vorgänge soll eben jenen technischen Fortschritt abbilden und verweist damit auf die zukunftorientierte Einstellung der Strömung. Die Kompositionen werden demnach rhythmischer und ausschnitthafter, da sich Bewegung nicht in einen vorgegebenen Bildraum einfügen kann. Die Künstler entwickelten einen schnellen und vibrierenden Duktus, die Perspektive und Umrisslinien lösen sich auf, Farben und Formen entsprechen sich. Auch die Plastik möchte einzelne Bewegungssequenzen und die Geschwindigkeit der technologischen Welt in einem Objekt festhalten, so dass die Figur wie bei Boccionis Werk "Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum" wie aufgesplittert wirkt.
Gesellschaftshistorisch erwächst diese Begeisterung für Geschwindigkeit aus dem Wunsch, die Gesellschaft im Zuge der progressiven technischen Entwicklung vollkommen neu zu strukturieren. Das Gründungsmanifest des Dichters Tommaso Marinetti vom 20. Februar 1909 "Le Figaro" proklamiert entsprechend den Bruch mit allen althergebrachten Traditionen. Den Krieg sehen die Futuristen als eine Möglichkeit an, die Welt von alten und nicht zeitgemäßen Anschauungen zu reinigen und von neuem beginnen zu können. Ihre Forderung, die traditionellen Gattungsgrenzen zu überschreiten, ist fortschrittlich und wird im Dadaismus Anklang finden. Philosophisch stehen die Futuristen den Ideen Nietzsches und Bergons nahe.
Künstler des Futurismus sind: Giacomo Balla, Umberto Boccioni, Carlo Carra, Filippo Tommaso Marinetti, Luigi Russolo, Gino Severini, Antonio Sant´Elia" (s. http://www.art-directory.de/malerei/futurismus/index.shtml - Zugriff 30.10.2015).
Werkbeispiele:
Architektur:
- Tankstelle Fiat Tagliero, Asmara (Eritrea), 1938 (Giuseppe Pettazzi)
Bildkünste/Skulptur:
- Umberto Boccioni, Visioni simultanee, 1911, Von der Heydt-Museum, Wuppertal
- Umberto Boccioni, Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum, 1913, Museum of Modern Art, New York
- Giacomo Balla, Dynamismus eines Hundes an der Leine, 1912, Albright-Knox Art Gallery, Buffalo, U.S.A
- Carlo Carra, Was die Straßenbahn mir sagte, 1910/11, Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt am Main
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Filippo Tommaso Marinetti, Vive la France, 1914, Museum of Modern Art, New York
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Gino Severini, Canon en action, 1914/15, VAF-Stiftung, Frankfurt am Main
Weiterführende Literatur (Auswahl):
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Baumgarth, Christa: Geschichte des Futurismus, Reinbek bei Hamburg 1966
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Schmidt-Bergmann, Hansgeorg: Futurismus - Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek bei Hamburg 1993
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Bartsch, Ingo / Scudiero, Maurizio (Hrsg.): "... auch wir Maschinen, auch wir mechanisiert..." Die zweite Phase des italienischen Futurismus 1915-1945, Bielefeld 2002 (Museum am Ostwall zu Gast im Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund 2002).
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Benesch, Evelyn / Brugger, Ingried: Futurismus - Radikale Avantgarde (Ausstell.Kat.), Mailand 2003
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Strobel-Koop, Regina: Geschichte und Theorie des italienischen Futurismus - Literatur, Kunst und Faschismus, Saarbrücken 2008
Wortlaut des Gründungsmanifests:
Am 20. Februar 1909 publizierte der junge italienische Jurist und Dichter Filippo Tommaso Marinetti in der französischen Zeitung Le Figaro sein „futuristisches Manifest” und begründete damit die futuristische Bewegung:
- Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit.
- Mut, Kühnheit und Auflehnung werden die Wesenselemente unserer Dichtung sein.
- Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere Unbeweglichkeit, die Ekstase und den Schlaf gepriesen. Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag.
- Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleiche... ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.
- Wir wollen den Mann besingen, der das Steuer hält, dessen Idealachse die Erde durchquert, die selbst auf ihrer Bahn dahinjagt.
- Der Dichter muß sich glühend, glanzvoll und freigebig verschwenden, um die leidenschaftliche Inbrunst der Urelemente zu vermehren.
Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein. Die Dichtung muß aufgefasst werden als ein heftiger Angriff auf die unbekannten Kräfte, um sie zu zwingen, sich vor den Menschen zu beugen.
- Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte... Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen.
- Wir wollen den Krieg verherrlichen - diese einzige Hygiene der Welt - den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.
- Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und jede Feigheit kämpfen, die auf Zweckmäßigkeit und Eigennutz beruht.
- Wir werden die großen Menschenmengen besingen, welche die Arbeit, das Vergnügen oder der Aufruhr erregt; besingen werden wir die vielfarbige, vielstimmige Flut der Revolution in den modernen Hauptstädten; besingen werden wir die nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden; die gefräßigen Bahnhöfe, die rauchende Schlangen verzehren; die Fabriken, die mit ihren sich hochwindenden Rauchfäden an den Wolken hängen; die Brücken, die wie gigantische Athleten Flüsse überspannen, die in der Sonne wie Messer aufblitzen; die abenteuersuchenden Dampfer, die den Horizont wittern; die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den Schienen wie riesige, mit Rohren gezäumte Stahlrosse einherstampfen und den gleitenden Flug der Flugzeuge, deren Propeller wie eine Fahne im Winde knattert und Beifall zu klatschen scheint wie eine begeisterte Meng...[
(aus: Christa Baumgarth: Geschichte des Futurismus. Reinbek bei Hamburg 1966, S. 26-27, erneut publiziert in: Evelyn Benesch, Ingried Brugger: Futurismus - Radikale Avantgarde (Ausstellkatalog), Mailand 2003, S. 263-265
Wortlaut des Originaltextes:
Manifesto del Futurismo
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Noi vogliamo cantare l'amor del pericolo, l'abitudine all'energia e alla temerità.
- Il coraggio, l'audacia, la ribellione, saranno elementi essenziali della nostra poesia.
- La letteratura esaltò fino ad oggi l'immobilità pensosa, l'estasi ed il sonno. Noi vogliamo esaltare il movimento aggressivo, l'insonnia febbrile, il passo di corsa, il salto mortale, lo schiaffo ed il pugno.
- Noi affermiamo che la magnificenza del mondo si è arricchita di una bellezza nuova; la bellezza della velocità. Un automobile da corsa col suo cofano adorno di grossi tubi simili a serpenti dall'alito esplosivo... un automobile ruggente, che sembra correre sulla mitraglia, è più bello della Vittoria di Samotracia.
- Noi vogliamo inneggiare all'uomo che tiene il volante, la cui asta ideale attraversa la Terra, lanciata a corsa, essa pure, sul circuito della sua orbita.
- Bisogna che il poeta si prodighi con ardore, sfarzo e munificenza, per aumentare l'entusiastico fervore degli elementi primordiali.
- Non v'è più bellezza se non nella lotta. Nessuna opera che non abbia un carattere aggressivo può essere un capolavoro. La poesia deve essere concepita come un violento assalto contro le forze ignote, per ridurle a prostrarsi davanti all'uomo.
- Noi siamo sul promontorio estremo dei secoli!... Perché dovremmo guardarci alle spalle, se vogliamo sfondare le misteriose porte dell'impossibile? Il Tempo e lo Spazio morirono ieri. Noi viviamo già nell'assoluto, poiché abbiamo già creata l'eterna velocità onnipresente.
- Noi vogliamo glorificare la guerra - sola igiene del mondo - il militarismo, il patriottismo, il gesto distruttore dei libertari, le belle idee per cui si muore e il disprezzo della donna.
- Noi vogliamo distruggere i musei, le biblioteche, le accademie d'ogni specie, e combattere contro il moralismo, il femminismo e contro ogni viltà opportunistica e utilitaria.
- Noi canteremo le grandi folle agitate dal lavoro, dal piacere o dalla sommossa: canteremo le maree multicolori e polifoniche delle rivoluzioni nelle capitali moderne; canteremo il vibrante fervore notturno degli arsenali e dei cantieri, incendiati da violente lune elettriche; le stazioni ingorde, divoratrici di serpi che fumano; le officine appese alle nuvole per i contorti fili dei loro fumi; i ponti simili a ginnasti giganti che scavalcano i fiumi, balenanti al sole con un luccichio di coltelli; i piroscafi avventurosi che fiutano l'orizzonte, e le locomotive dall'ampio petto, che scalpitano sulle rotaie, come enormi cavalli d'acciaio imbrigliati di tubi, e il volo scivolante degli aeroplani, la cui elica garrisce al vento come una bandiera e sembra applaudire come una folla entusiasta.
È dall'Italia che noi lanciamo per il mondo questo nostro manifesto di violenza travolgente e incendiaria col quale fondiamo oggi il FUTURISMO perché vogliamo liberare questo paese dalla sua fetida cancrena di professori, d'archeologi, di ciceroni e d'antiquari. Già per troppo tempo l'Italia è stata un mercato.
Filippo Tommaso Marinetté
Le Figaro - 20. Februar 1909