Propädeutik online: Architektur

Gotik

"Allgemeine Stilbezeichnung für die europ. → Baukunst 1135/1225-1520. Die Bezeichnung »gotisch« findet sich erstmalig 1435 bei L. B. → Alberti in der it. Ausgabe seiner »Della pittura libri tre« als »Mani ... vecchie et gotiche«, was in der 1450 gedruckt erschienenen lat. Ausg. übersetzt ist mit »sensiles et rusticanae«, also gotisch = rauh. L. → Valla (1406-57) unterscheidet 1440 zw. got. und röm. Buchstaben, bei ihm ist alles Gotische schlecht, alles Schlechte gotisch; das Gleiche nennt G. Vasari 1550 u. a. »maniera tedesca« bzw. »maniera de' Goti« und »Questa maniera fu trovata dai Goti« und drückt damit seine Verachtung gegenüber der Kunst des Nordens, der Goten, aus, »als etwas, dem jegliche Harmonie abgeht und das man am ehesten als Durcheinander und Unordnung bezeichnen kann«. Der ausführl. begründeten Ablehnung folgt Filippo Baldinucci, »Vocabolario toscano dell'Arte del Desegno«, Firenze 1681. Die Kritik der Renaissance an der Gotik mag heute ästhet. wie hist. als verständnislos erscheinen, sie erfaßt jedoch Eigentümlichkeiten, die auch heute als wesentl. empfunden werden: das Vertikale, Emporsteigende, Illusionistische, Gebrechliche. Noch ganz in der Tradition von Vasari steht G. Sulzer (1720-79) in seiner »allgemeinen Theorie der Schönen Künste« 1778: »Beywort in den schönen Künsten..., um dadurch einen barbarischen Geschmack anzudeuten; ... Fürnehmlich scheinet er eine Unschiklichkeit, den Mangel der Schönheit und guter Verhältnisse, in sichtbaren Formen anzuzeigen.« Gegen diese allgemeine negative Auffassung nimmt Goethe in seinem Aufsatz »Von deutscher Baukunst« 1772 vor dem Straßburger Münster Stellung; die damit einsetzende positive Würdigung erreicht in F. Kuglers »Handbuch der Kunstgeschichte«, 1842 einen Höhepunkt. E. Viollet-le-Duc, G. Dehio und G. v. Bezold, H. Jantzen, H. Sedlmayr, O. v. Simson, F. Ohly u. a. haben zur Interpretation wichtige Beiträge geleistet.

Form (→ Baukunst) und Inhalt (Ikonologie) bilden in der G. eine ausgewogene Einheit, einen meisterl. Zusammenklang von Konstruktion, Illusion und theol. Ideen. Das Verhältnis von Konstruktion, tekton. Struktur und opt. Erscheinung sowie die Berücksichtigung des Lichts sind die bes. Merkmale. Die atl. Typen der Stiftshütte und des Salomon. Tempels werden in der ntl. Ecclesia gesteigert, hinweisend auf das Himmlische Jerusalen der Eschatologie und Ordnungsgesetze des Kosmos übernehmend. Das durch die ars des architectus und magister operis entstandene Werk soll zum Überlegen anregen und die Schönheit erkennen lassen, es soll als anagogicus mos der Seele für ihren Aufstieg von der materiellen zur immateriellen Welt ein angemessenes Gehäuse, eine Stätte der geistigen Übungen, formen, »geometricis et arithmeticis instrumentis« (Abt Suger v. St-Denis, Thierry v. Chartres). Vgl. → Buchmalerei; → Baukunst; → Tafelmalerei."

(Aus G. Binding, 'Gotik', in Lexikon des Mittelalters, 10 vols (Stuttgart: Metzler, [1977]-1999), vol. 4, cols 1575-1576, in Brepolis Medieval Encyclopaedias - Lexikon des Mittelalters Online)

Link zu: Gotik: Wandaufbau innen
Link zu: Gotik: Aussenbau
zeit/
Notre-Dame, Laon, 155-1235
Chorumgang, Saint-Denis, Paris, 1140 begonnen
St. Marien, Neubrandenburg, ab 1270