Gotik III: Aussenbau |
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"Auflockerung des Außenbaus durch Strebewerk, Wimperge, Tabernakel, Fialen, Krabben, Blendmaßwerk und Maßwerkgalerien (→Maßwerk). Bei der Fassade wachsen die höheren Teile des Baus hinter den niedrigeren hervor (Prinzip der überschnittenen Geschosse oder der übergreifenden Form); die Außenflächen wandeln sich in ein Gefüge aus Gitterflächen (Filigranplatte, Splitterflächen). Die Verwendung dieser den Raummantel auflösenden Elemente führt im Verlauf der Entwicklung von der Frühgotik zur Hochgotik und zur Lineargotik durch Reduzierung des Mauerwerkes zu immer kühneren Skelettkonstruktionen und zur Aufgabe der Basilika zugunsten von Hallenkirche und Staffelhalle, dazu treten hochaufragende, spitze und oft in Filigranwerk aufgelöste Türme. Im Verhältnis zu der techn. Konstruktion ist die sichtbare Architektur eine Illusionsarchitektur. Entscheidende Merkmale des got. Stils sind nicht Kreuzrippengewölbe, Spitzbogen und Strebepfeiler, wie es Violletle-Duc erklärt hat; sie alle, die schon in der roman. B. (Burgund, Normandie, Kathedrale von Durham 1096-1133) entwickelt und vorbereitet waren, sind nicht mehr als konstruktive Mittel zur Verwirklichung einer künstler. Idee. Auch das Aufstreben zur Höhe, die Steilheit der Proportionen, sind schon z. B. in Cluny vorhanden. Die got. Kathedrale ist aber auch nicht nur durch eine neue opt. Begrenzung des Raumes durch Raumgrund (Diaphanie der Wand, H. Jantzen 1927), sondern durch eine neue Auffassung der Raumumgrenzung und des Baukörpers - Negieren der Mauer und des Körpers - gekennzeichnet. Sicher ist es falsch, von dem Aufriß der Wand, dem System, auszugehen (Jantzen und Reinhardt); eine räuml. Betrachtungsweise wie bei Sedlmayr mit seiner »übergreifenden Form« ist vorzuziehen, diese jedoch wieder nicht verengt zu einer Folge von Baldachinen wie in dem »Baldachinsystem mit diaphanen Gitterfüllwänden« (Sedlmayr 1950). |
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Zwei Wesensmerkmale der got. B. haben weder Vorläufer noch Parallelen: die Berücksichtigung des Lichts und das Verhältnis von tekton. Struktur und Erscheinung (v. Simson). In der roman. Kirche hebt sich das Licht stark von der schweren, düsteren Masse der Wände ab; die got. Wand scheint dagegen durchlässig zu sein; die farbigen Glasfenster ersetzen die buntbemalten Wände der roman. B., sie sind leuchtende Wände. Das »Gotische« ist ein meisterl. Zusammenklang von Konstruktion und Illusion: der Skelettbau in der Grundeinheit der Travée und die Diaphanie der Wand mit ihrer Lichtwirkung, das Prinzip der übergreifenden Form und der überschnittenen Geschosse, die opt. Negation der konstruktiven Gegebenheiten, dadurch der Eindruck des Schwebens und Aufstrebens. Die Kathedrale ist ein weitgehend aus dem ird. Dasein ausgesondertes Gebilde, ein Abbild des Kosmos und des himml. Jerusalem. Form und Inhalt bilden eine ideale Einheit. Die Entwicklung der Gotik ist in vier Stufen zu gliedern: a) Frühgotik mit vereinzelten Formen 1140-1180/90 (im frz. Kronland). b) Hochgotik mit verbundenen Formen 1180-1270 (europ. Verbreitung; in der Normandie und in England beginnt die Auseinandersetzung mit Sonderformen - Early English -, die bisweilen auf Frankreich zurückwirken. W-Spanien übernimmt um 1220 die frz. Kathedrale, ebenso Deutschland ab 1250 nach zunächst eigenständigen Umformungen). c) Lineargotik mit linearen Formen 1270-1350/70 (in Frankreich rayonnant, in England Decorated Style). d) Spätgotik mit verschliffenen Formen 1350-1520 (in vielen europ. Ländern nationale Ausprägungen: in Frankreich und den Niederlanden Flamboyant, in Deutschland Sondergotik, in England Perpendicular Style, in Portugal Emanuelstil)." 'Baukunst, IV. Gotische Baukunst', in Lexikon des Mittelalters, 10 vols (Stuttgart: Metzler, [1977]-1999), vol. 1, cols 1643-1650, in Brepolis Medieval Encyclopaedias - Lexikon des Mittelalters Online |